ARCHIV FÜR AUTOBAHN- UND STRASSENGESCHICHTE

Geschichte & Verwaltung | Historie & Gegenwart

Die Wahnbachtalstraße zwischen Siegburg und Much im Bergischen Land

Straße statt Eisenbahn durch das Wahnbachtal

Um die Verkehrsverbindungen der Kreisstadt Siegburg verbessern und das Bergische Hinterland wirtschaftlich besser erschließen zu können, war ursprünglich der Bau einer Eisenbahnlinie von Siegburg bis nach Much und weiter bis zum Wiehltal geplant. Bereits um die Jahrhundertwende hatte es Bestrebungen für eine Kleinbahn zwischen Siegburg und Much gegeben, für deren Verlauf alternativ eine Trasse entlang der Zeithstraße (der heutigen B 56) bzw. durch das Wahnbachtal diskutiert wurde. So wurde in der 1912 vom „Eisenbahnverein Wahntal“ herausgegebenen Denkschrift die Streckenführung durch das Wahnbachtal befürwortet. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhinderte jedoch die Verwirklichung dieses Plans und nach dem Krieg scheiterte das Eisenbahnprojekt an den geschätzten Kosten von 4,5 Millionen Reichsmark, die nach Ansicht des Kreistages „die finanzielle Tragfähigkeit des Kreises weit übersteigen würde.“ Deshalb beschloss der Kreistag am 9. Juni 1921, das Bahnprojekt erst wieder aufzunehmen, wenn sich die Finanzlage des Kreises verbessert habe.

Ausschlaggebend für die Bevorzugung einer Straßenverbindung von Siegburg nach Much war außerdem die Tatsache, dass der Straßenbau durch die produktive Erwerbslosenfürsorge sowie durch Beihilfen seitens der Rheinprovinz gefördert wurde. Demgegenüber waren für den Bau einer Eisenbahnlinie durch das Wahnbachtal keine staatlichen Zuschüsse zu erwarten. Gleichwohl hielt die Kreisverwaltung Siegburg die Pläne für das Eisenbahnprojekt weiter aufrecht, da es als „ideale Lösung für die brennende Verkehrsfrage“ angesehen wurde.

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Bild 1: Lageplan der Wahnbachtalstraße (1927)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Bau der Wahnbachtalstraße als „Notstandsarbeit“

Am 1. Juli 1924 richtete der Bürgermeister Erwin Schmitz-Mancy von Neunkirchen an den Kreisausschuss des Siegkreises den Antrag, eine Straße durch das Wahnbachtal von Kaldauen (bei Siegburg) bis nach Much zu bauen. Begründet wurde dieser Vorstoß mit der Aussicht, Mittel der produktiven Erwerbslosenfürsorge für diese Baumaßnahme einsetzen und damit der hohen Arbeitslosigkeit im Siegkreis entgegenwirken zu können, die 1924 bei durchschnittlich 17,3 % lag. Unter Berücksichtigung der damaligen Erwerbstätigkeitsrate von nur 47,3 % der Gesamtbevölkerung lag die Arbeitslosenquote nach heutigen Maßstäben sogar bei 36 %, sodass jeder dritte Erwerbsfähiger arbeitslos war. Die Ursache hierfür war die strukturelle Schwäche des Siegkreises nach dem Ersten Weltkrieg, die u.a. durch die Schließung der Munitionsfabriken in Siegburg bedingt war.

Bei den zwei Jahre dauernden Bauarbeiten an der Wahnbachtalstraße wurden täglich 1200 bis 2000 Notstandsarbeiter eingesetzt. Eine Schwierigkeit für die Motivation der herangezogenen Arbeitskräfte bestand nach Meinung des Landrates Dr. Eduard Wessel (Amtszeit: 1924-1933) darin, dass sie durch die lange Erwerbslosigkeit „der Arbeit entwöhnt und arbeitsunwillig“ geworden waren. Hinzu kam der dauernde Wechsel der eingesetzten Notstandsarbeiter, die in der Regel nach zwei bis drei Monaten Beschäftigung wieder entlassen und durch neue Arbeitskräfte ersetzt wurden. Ziel dieser „Notstandsarbeit“ war zum einen die Einsparung von Kosten beim Bau der Wahnbachtalstraße und zum anderen die Erwerbslosenfürsorge in Form von Notstandsarbeitslöhnen. Dabei wurde denjenigen Erwerbslosen, welche die Notstandsarbeit verweigerten, rigoros die staatliche Unterstützung entzogen. So stellte Wessel mit Genugtuung fest, dass „drei Viertel bis vier Fünftel der zu den Notstandarbeiten“ herangezogenen Erwerbslosen die knochenharte Arbeit beim Bau der Wahnbachtalstraße nicht aufgenommen hätten und deshalb keine staatliche Unterstützung mehr erhielten. Somit erfüllte der Bau der Wahnbachtalstraße als „Notstandsarbeit“ auch die Funktion einer Disziplinierung der Erwerbslosen und einer Entlastung der Sozialkassen. Folglich sollte nach Wessels Meinung die „notwendige Siebung der Erwerbslosen“ im Straßenbau weiter beibehalten werden, um auch zukünftig „arbeitsscheue Elemente aus der Erwerbslosenfürsorge“ ausmerzen zu können.

Am 5. Juli 1924 wurde seitens des Kreisausschusses beschlossen, in Anbetracht der steigenden Erwerbslosigkeit im Siegkreis den Antrag des Neunkirchener Bürgermeisters zu prüfen. Dabei machte er seine Zustimmung davon abhängig, dass das Bauprojekt von denjenigen Gemeinden finanziell unterstützt würde, durch deren Gebiet die geplante Wahnbachtalstraße führen werde. Am 4. September 1924 empfahl der Kreisausschuss auf der Grundlage eines vom Kreistiefbauamt angefertigten Planes dem Kreistag den Bau der Wahnbachtalstraße. An der Begehung der Trasse, die noch vor der entscheidenden Kreistagssitzung stattfand, nahmen neben mehreren Kreistagsmitgliedern auch die Bürgermeister von Lauthausen (heute zu Hennef gehörig), Neunkirchen und Much sowie ein Vertreter des Kölner Regierungspräsidenten teil. Letzterer gab die Zusicherung, dass die Regierung das Bauprojekt durch die produktive Erwerbslosenfürsorge fördern und dabei 90 Prozent der Tagelöhne zahlen werde.

Mit dem bei nur einer Gegenstimme getroffenen Beschluss der Kreistagssitzung vom 17. September 1924 wurde der Bau der Wahnbachtalstraße amtlich, woran bestimmte Bedingungen geknüpft wurden. So sollte der Kreis als Träger des Straßenbaus fungieren und für die Aufstellung des Projektes sowie für die Bauleitung keine Kosten berechnen. Die durch den Straßenverlauf betroffenen Bürgermeistereien Much, Neunkirchen und Lauthausen wurden ihrerseits dazu verpflichtet, den Grunderwerb unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, und zwar in einer Breite, dass der Bahnkörper bei einem eventuell späteren Bau einer Eisenbahn durch das Wahnbachtal ohne weiteren Grunderwerb angeschlossen werden konnte. Außerdem sollte bei der Bauausführung die Errichtung einer künftigen Talsperre im unteren Teile des Wahnbaches berücksichtigt werden.

Umfang und Kosten der Bauarbeiten

Ende Februar 1925 wurde mit dem Bau der Wahnbachtalstraße begonnen. Nach den ursprünglichen Plänen des Kreisbaumeisters Heinrich Bonn sollte sie zunächst in Münchshecke (bei Seligenthal) beginnen, und zwar als Fortsetzung der Straße von Siegburg nach Kaldauen. Da jedoch die Anbindung an die Provinzialstraße von Köln über Siegburg nach Frankfurt nur unzureichend war und nicht den an eine Hauptverkehrsstraße gestellten Anforderungen entsprach, legte das Kreistiefbauamt am 7. Januar 1926 Pläne zur Weiterführung der Wahnbachtalstraße von Kaldauen bis nach Siegburg-Deichhaus vor, die am 24. Juni 1926 durch den Landrat Wessel genehmigt wurden.

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Bild 2: Bauarbeiten an der Wahnbachtalstraße (1925-27)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Damit erstreckte sich die Wahnbachtalstraße, die von der nordöstlichen Ecke des Kreises in Much durch die Bürgermeistereien Neunkirchen, Lauthausen und Siegburg südwestlich quer durch den Siegkreis nach Siegburg-Deichhaus führte und dort in die Frankfurter Straße einmündete, auf insgesamt 23 Kilometer. Diese Straßenverbindung hatte einen Höhenunterschied von 139 Metern zu überwinden. Zur Vermeidung von unnötigen Steigungen mussten umfangreiche Bodenarbeiten vorgenommen werden, bei denen rund 1 Million Kubikmeter Erde bewegt wurden. Stellenweise betrugen die Böschungen bis zu 24 Meter senkrechter Höhe, während scharfe Kurven oder unübersichtliche Ortsdurchfahrten vermieden wurden. Die Fahrbahn war mit 6 Metern Breite ausgelegt. Hinzu kamen beiderseits Bankette mit je 2¼ Metern, sodass die „gesamte Kronenbreite“ mit 10 bis 11 Metern für damalige Straßenverhältnisse recht großzügig ausfiel. Die Befestigung der Straße erfolgte mit einer Packlage aus 25 cm Grauwacke, die in Steinbrüchen nahe der Straße gewonnen wurde. Insgesamt wies die Wahnbachtalstraße weder enge Ortsdurchfahrten noch allzu scharfen Kurven auf und war auch für das Befahren von schweren Lastkraftwagen geeignet.

Die Bauarbeiten waren jedoch von unerwarteten technischen Schwierigkeiten geprägt. Dabei waren aufwendige Maßnahmen wie Regulierungen und Verlegungen des Wahnbaches, umfangreiche Bodenbewegungen zur Vermeidung unnötiger Steigungen sowie Hangsicherungs- und Trockenlegungsarbeiten erforderlich, sodass das ursprünglich kalkulierte Budget von 1,5 Millionen Reichsmark bei weitem überschritten wurde. Dass der Bau der Wahnbachtalstraße letztendlich mehr als 5 Millionen Reichsmark verschlungen und somit mehr gekostet hatte als der ursprünglich projektierte Bau einer Eisenbahnlinie durch das Wahnbachtal, der mit 4,5 Millionen Reichsmark höher veranschlagt und deshalb zunächst zu den Akten gelegt worden war, wurde allerdings bei der feierlichen Eröffnung der Straße am 7. Juli 1927 durch Landrat Wessel im Beisein des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt Heinrich Hirtsiefer (Amtszeit: 1921-1932) verschwiegen.

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Bild 3: Bauarbeiten an der Wahnbachtalstraße
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Aufwendige Brückenbauten

Einen Großteil der Kosten beanspruchten die zahlreichen Brückenbauten, für die über 1 Million Reichsmark aufgewendet werden mussten. Besonders kostenträchtig waren die beiden großen Talbrücken über den Ummigsbach bei Seligenthal und über den Derenbach, die von der Betonfirma Hüser & Co. in Oberkassel geplant und gebaut wurden. Höhe und Spannweite dieser beiden Bauwerke waren so konstruiert, dass die bereits vorhandenen Pläne eines Stausees mit einem Fassungsvermögen von 5,1 Millionen Kubikmetern oberhalb von Seligenthal später ohne größere Schwierigkeiten hätten umgesetzt werden können. Eine „Vergleichsrechung“ hatte nämlich ergeben, dass die Überbrückung der beiden Seitentäler „unter Berücksichtigung der Verkehrssicherheit und späteren Unterhaltungskosten vorteilhafter und billiger war als die Umgehung oder die Herstellung eines entsprechend hohen Dammes mit Durchlass“. Dementsprechend war die Trassierung der Straße oberhalb von Seligenthal auf einer Länge von 4 km als „typische Hangstraße“ konzipiert.

Das Bauwerk über das Derenbachtal wurde als Dreigelenkbogenbrücke in Stampfbeton ausgeführt. Das heißt, dass sie aus zwei Teilträgern bestand, die im Scheitel gelenkartig miteinander verbunden und an den Fußpunkten mit je einem weiteren Gelenk auf dem Untergrund gründeten. Mit einer Spannweite von 70 Metern galt sie damals als größte Brücke ihrer Art in Europa. Ihre Gelenksteine waren aus Eisenbeton hergestellt, während die beiden Widerlager auf Felsboden fundamentiert waren. Demgegenüber bestand die konventionell gebaute Brücke über den Ummigsbach bei Seligenthal aus drei Bögen von jeweils 16 Metern Spannweite. Da eines der Widerlager auf Sand gegründet war, musste die Eisenbetonkonstruktion breiter als gewöhnlich gefasst werden. Die historischen Aufnahmen von den Bauarbeiten der beiden Talbrücken verdeutlichen den hohen technischen Aufwand, der von der Erstellung des Holzgerüstes bis zur Betonierung der Brückenbögen erforderlich war und sich über mehrere Monate erstreckte. So wurde das Material mit Hilfe eines Aufzuges, der sich in einem hölzernen Gerüstturm vor der Brücke befand, nach oben transportiert. Zusätzlich war auf einem der seitlichen Bögen der Ummigsbachbrücke ein Kran montiert, der die schweren Bauteile auf die Brücke hievte.

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Bild 4: Bauarbeiten an der Derenbachtalbrücke (1925-27)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises
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Bild 5: Die fertige Derenbachtalbrücke (1928)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Neben den beiden großen Talbrücken wurden weitere 21 kleinere Brücken über den Wahnbach errichtet, die – jeweils auf einem „zusammengesetzten Kreisbogen“ basierend – mit einer Spannweite von 8 bis 10 Metern versehen waren. Das aus Stampfbeton bestehende Brückenfundament erhielt eine Verkleidung aus Bruchsteinen, die in nahe gelegenen Steinbrüchen des Wahnbachtales gewonnen wurden. Mit Hilfe dieser Bruchsteinverkleidung wurden die Bücken dem Landschaftsbild des Wahnbachtales angepasst. Ihre Durchflussöffnung wiederum war so groß bemessen, dass „auch bei höchstem Hochwasser mit keinem Aufstau zu rechnen“ war.

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Bild 6: Bauarbeiten an der Ummigsbachtalbrücke (1925-27)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises
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Bild 7: Die fertige Ummigsbachtalbrücke bei Kloster Seligenthal (1930)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Letztendlich war der Bau der Wahnbachtalstraße nach modernsten Kriterien geplant und ausgeführt. Der Anfangspunkt in Siegburg-Deichhaus lag 139 Meter tiefer als der Endpunkt in Much, sodass die durchschnittliche Steigung rund 0,65 % und die größte Steigung 3,2 % betrug.

Die Wahnbachtalstraße als Versuchsstrecke

Eine Besonderheit stellt die Tatsache dar, dass die Wahnbachtalstraße in ihrem unteren bzw. südwestlichen Verlauf als Versuchsstrecke konzipiert war, um unterschiedliche Straßenbeläge zu testen. Deshalb wurden auf einer Länge von 4 km insgesamt 29 verschiedene Beläge mit Asphalt-, Beton- oder Steindecken eingebaut, „deren Erprobung wichtiges Material für die künftige Gestaltung der Strassenbefestigungen“ ergeben sollte. Da durch die betreffenden Maßnahmen Mehrkosten verursacht wurden, stellte die Kreisverwaltung im Juli 1927 einen Antrag an das Reichsverkehrsministerium auf Bewilligung eines „Zuschusses zu den Kosten für Einrichtung, Unterhaltung und wissenschaftliche Beobachtung der Versuche“. Hierzu war die Wahnbachtalstraße am 28. Mai 1927 durch die „Studiengesellschaft für Automobilstrassenbau“ (Stufa) im Rahmen ihrer Hauptversammlung in Köln besichtigt und begutachtet worden, und zwar unter Federführung von Robert Otzen (1872-1934), Professor für Eisenbau und Statik an der Technischen Universität in Hannover und Vorstandsvorsitzender des HAFRABA-Vereins mit Sitz in Frankfurt am Main.

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Bild 8: Lageplan der Versuchsstrecken der Wahnbachtalstraße (1927)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

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Bild 9: Hauptversammlung der Studiengesellschaft für Automobilstraßenbau
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Im Programmheft dieser Studiengesellschaft, die 1924 in Berlin gegründet worden war und als beratender Ausschuss für wissenschaftliche Straßenbauforschung fungierte, wurde für Sonnabend, den 28. Mai 1927, angekündigt, dass nach der Fahrt von Köln nach Siegburg zunächst in einem Kino ein Film „über die Herstellungsarbeiten der Versuchsstraße des Landkreises Siegburg im Wahnbachtal“ vorgeführt werde. Anschließend erfolge ein gemeinsames Mittagessen im Gasthaus Stern am Marktplatz in Siegburg, um danach die Versuchsstraße mit ihren verschiedenen Befestigungsarten zu besichtigen. Zugleich wurde vermerkt, dass die Wahnbachtalstraße „eine Reihe sehr bemerkenswerter Kunstbauten“ aufweise, so u.a. „neu geschüttete Dämme bis 28 Meter Höhe, einen Viadukt und eine Stampfbeton-Dreigelenkbogenbrücke“. In ihrem Bericht zur Besichtigung der Wahnbachtalstraße wiederum stellte die Studiengesellschaft fest, dass „im Hinblick auf die zu erwartende Inanspruchnahme durch den Automobilverkehr“ verschiedene Versuche mit neuen Straßendeckungsmethoden angestellt worden seien. Insgesamt hätten die Tagungsteilnehmer das „grösste Interesse für den in seiner Art wohl einzig dastehenden Strassenbau“ bekundet, wobei die Filmvorführung „eine Fülle von Bildern aus den einzelnen Phasen des Strassenbaus“ gezeigt habe.

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Bild 10: Programm der Studiengesellschaft für Automobilstraßenbau für den 28. Mai 1927 (Seite 3)
Quelle: Archiv des Rhein-Sieg-Kreises

Im abschließenden Gutachten von Professor Otzen vom 10. Juli 1927 wurde festgehalten, dass die Wahnbachtalstraße offensichtlich die beste Gelegenheit biete, „ausgedehnte Versuche für die Bewährung der zahlreich dort bereits eingebauten Straßendecken unter gemischtem Verkehr zu prüfen“. Dabei wurde die Tatsache, daß „zunächst kein allzu großer Verkehr“ auf der neuen Straße zu erwarten sei, nicht als gravierender Mangel beurteilt. Denn das „neue Werk soll ja auch in erster Linie Verkehr erschließend wirken“, so der Wissenschaftler und spiritus rector des Autobahnprojektes „HaFraBa“ (Hamburg-Frankfurt am Main-Basel). Dass Robert Otzen jedoch mit seiner Einschätzung nicht ganz richtig lag, zeigt ein Schreiben des Landesbauamtes Siegburg aus dem Jahre 1935 an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, demzufolge beim Bau der Wahnbachtalstraße „übertriebene Hoffnungen“ geweckt worden seien. Denn die neue Verbindung von Siegburg nach Much habe „keinen Verkehr“ und werde ihn „auch kaum erhalten“. Auf die Bedeutung der Wahnbachtalstraße als Versuchsstrecke wurde aber seitens des Landesbauamtes nicht näher eingegangen. Außerdem blieb die Frage ungeklärt, wieviel Kosten zusätzlich durch die Erprobung neuer Straßenbeläge entstanden und ob diese vom Reichsverkehrsministerium ersetzt worden sind. Nach Mitteilung des Landrates Wessel jedenfalls, die einen Tag nach der feierlichen Eröffnung am 8. Juli 1928 an den Kreistag erging, sei der Kreis bereit, die Wahnbachtalstraße der „fachlichen Kontrolle einer Hochschule, Aachen oder Hannover oder auch beide, zu unterstellen.“

Parallelen zum zeitgleichen Bau des Nürburgrings

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Bild 11: Bauarbeiten am Nürburgring (1925-27); Materialtransport mit der Lorenbahn.
Quelle: Archiv capricorn Nürburgring GmbH

Im Gutachten von Robert Otzen wurde als Parallele zur Wahnbachtalstraße der Bau des Nürburgrings angeführt. Denn diese Rennstrecke sei gleichfalls als Versuchsstraße errichtet worden und werde in ihrer „Eigenart als kreuzungsfreie, nur für gummibereifte Kraftwagen bestimmte Bahn“ mit Unterstützung des Reiches für „wissenschaftliche Forschungszwecke in Anspruch genommen“. Mit dem Bau des Nürburgrings, der ebenfalls zwischen 1925 und 1927 als Notstandsarbeit erfolgte, erhoffte sich der Landkreis Adenau vor allem eine Förderung des Fremdenverkehrs in dem wirtschaftsschwachen Gebiet der Eifel.

Initiator war wie im Siegkreis ein Landrat, nämlich Dr. Otto Creutz (Amtszeit: 1924-1932), der den Bau einer „von jedem Verkehr losgelösten großen Gebirgs-, Renn- und Prüfungsstraße“ anregte. Dabei vertrat er die Ansicht, dass es „nicht die Aufgabe des Kreises sein könne, mit öffentlichem Gelde eine nur dem Sport dienende schnelle Rennbahn zu schaffen, sondern dass aus den Mitteln der produktiven Erwerbslosenfürsorge eine Prüfungsstraße auszubauen sei, welche auch der Automobilindustrie wertvolle Dienste in der Vervollkommnung der Motorfahrzeuge und damit der Allgemeinheit leisten könne“.

Am 13. August 1925 wurde die Genehmigung für den Bau des Nürburgrings als große Notstandsarbeit durch das Reichsverkehrsministerium erteilt und am 27. September 1925 erfolgte die Grundsteinlegung am Start- und Zielplatz. Die feierliche Einweihung der neuen Rennstrecke, bei dem das „Eifelrennen für Wagen und Motorräder“ ausgetragen wurde, erfolgte am 18. und 19. Juni 1927. Wie bei der Eröffnung der Wahnbachtalstraße, die drei Wochen später stattfand, war der preußische Wohlfahrtsminister Heinrich Hirtsiefer einer der Ehrengäste des Festaktes.

Die Planungen für den Nürburgring sahen eine Gesamtstrecke von 28,265 km vor, wobei die Nordschleife 22,810 km, die Südschleife 7,747 km und die Start- und Zielschleife 2,238 km (sich jeweils in Teilstücken überschneidend) betragen sollten. An der Bauausführung waren vier Privatfirmen beteiligt, die in Köln und in Stuttgart ansässig waren. Bis zu 2000 Notstandsarbeiter wurden täglich eingesetzt, die nicht nur aus der Eifel, sondern auch von Rhein und Ruhr stammten. Die Brückenbauten sollten wie die Bauwerke der Wahnbachtalstraße auf das Landschaftsbild Rücksicht nehmen, damit sie „möglichst zu einer Zierde der Gegend werden“. Außerdem wurde die Rennstrecke so angelegt, dass sie „an den Hängen wenig besuchter Täler oder an reizlosen Ödflächen“ vorbeiführte. Als „besonderer Vorteil“ wurden die in der Nähe gelegenen Basaltbrüche angesehen, sodass die Steine für den Unterbau und die Befestigung der Rennstrecke ohne Schwierigkeiten transportiert werden konnten.

Ebenso wie der Siegkreis fungierte der Landkreis Adenau als Bauherr und förderte den Bekanntheitsgrad der neuen Renn- und Prüfstrecke, indem er ab 1926 die Zeitschrift „Der Nürburgring“ herausgab. Obwohl der Kreis Adenau staatliche Fördermittel erhielt, schnellten die Baukosten, die bei Baubeginn 1925 mit 2,5 Millionen Reichsmark veranschlagt waren, in die Höhe. Sie stiegen zunächst auf 5,5 und später auf 8,1 Millionen Reichsmark an, bis sie schließlich nach der Fertigstellung des Nürburgrings und der Aufnahme des Rennbetriebs im Juni 1927 insgesamt 14,1 Millionen Reichsmark ausmachten, wovon alleine 5,5 Millionen zu Lasten des Kreises Adenau gingen.

Die in den Bau des Nürburgrings gesetzten Erwartungen wurden jedoch enttäuscht, wie einem Verwaltungsbericht des Kreises Adenau aus dem Jahre 1927 zu entnehmen ist. Denn es war weder der erhoffte Fremdenzustrom bei den sportlichen Veranstaltungen noch ein größerer Verkehr in den benachbarten Regionen wie etwa im Brohltal zu verzeichnen. Es kamen zwar kurzfristig „Besucher in Massen“ zu den jeweiligen Rennveranstaltungen, aber sie blieben nur für einige Stunden, bestenfalls für zwei Tage. Gleichwohl bedeuteten die hohen Belastungen, die der Kreis Adenau mit dem Bau des Nürburgrings zu schultern hatte, das Ende seiner eigenständigen Existenz. Während die finanziellen Probleme durch die Gründung der „Nürburgring GmbH“ im Juli 1929 zunächst aufgefangen werden konnten, wurde der Landkreis Adenau zum 1. Oktober 1932 im Zuge der kommunalen Neuordnung aufgelöst und sein Gebiet in die Kreise Mayen und Ahrweiler eingegliedert.

Die Wahnbachtalstraße gestern und heute

Ein Aufschwung des Tourismus, den sich der Siegkreis beim Bau der Wahnbachtalstraße neben der wirtschaftlichen Förderung des Wahnbachtales erhofft hatte, blieb ebenfalls aus. So hob der Bericht des Kölner Lokalanzeigers anlässlich der Eröffnung der Wahnbachtalstraße zwar ihre „kommunalwirtschaftliche, verkehrstechnische und wissenschaftliche Bedeutung“ über die Grenzen des Siegkreises hinaus hervor, doch bereits wenige Monate später zog der Mucher Bürgermeister Egidius Stief (Amtszeit: 1921-1933) eine ernüchternde Bilanz. Seiner Ansicht nach werde sich der Verkehr auf der Wahnbachtalstraße nicht „in dem Maße entwickeln, wie er auf der Zeithstraße“ schon bestehe, die einen „riesigen Verkehr“ aufweise. Auch der wirtschaftliche Aufschwung während der dreißiger Jahre erbrachte weder einen nennenswerten Anstieg des Ausflugsverkehrs im Wahnbachtal noch eine wirtschaftliche Belebung dieses strukturschwachen Gebietes. Dementsprechend fiel die Bewertung der Straße rund zehn Jahre nach ihrer Inbetriebnahme seitens des Landesbauamtes gleichfalls negativ aus: Die Wahnbachtalstraße sei verkehrstechnisch nur „von geringer Bedeutung, da in etwa 1 km Abstand nahezu parallel die fast neu ausgebaute Reichsstraße Nr. 56“, die Zeithstraße, verlaufe. Wie allerdings die wissenschaftlichen Versuche mit verschiedenartigen Straßenbelägen von der Aufsichtsbehörde beurteilt wurden, ist nicht überliefert. Das Ende der Wahnbachtalstraße als Kreisstraße und auch als Versuchsstrecke war besiegelt, als sie auf „besonderes Drängen“ der Kreisverwaltung im April 1935 als Landstraße I. Ordnung eingestuft wurde, die von der Rheinprovinz zu unterhalten war.

Infolge der Zerstörung der Talbrücke über den Ummigsbach bei Seligenthal gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auch der Fortbestand der Wahnbachtalstraße als durchgehende Verbindung von der Kreisstadt Siegburg ins Bergische Much jäh beendet: Am 8. April 1945 sprengte die deutsche Wehrmacht die Brücke, die nicht wieder aufgebaut wurde. Stattdessen wurde zunächst ein provisorisches Teilstück eingerichtet, mit dem die Reste des zerstörten Viadukts über den Ummigsbach umfahren werden konnten. Mit dem Bau der Wahnbachtalsperre zwischen 1955 und 1958, die mit einem Fassungsvermögen von 41,4 Millionen Kubikmetern etwa achtmal so groß ausfiel wie der in den zwanziger Jahren geplante Kraftwerkstausee, wurde die Wahnbachtalstraße auf einer Länge von 6,3 km überflutet und in einen nördlichen Teil (von Much bis zur einstigen Herkenrathermühle) und südlichen Teil (von Kaldauen bis Siegburg) getrennt. Dabei versank auch die große Talbrücke über das Derenbachtal vollständig in den Wassermassen der Talsperre. Als im Sommer 2008 der Pegel der Talsperre infolge von Sanierungsarbeiten an der Staumauer um fast 25 Meter abgesenkt wurde, kam die Derenbachtalbrücke nahezu unbeschädigt wieder kurzfristig zum Vorschein und erinnerte für wenige Monate an die Existenz einer außergewöhnlichen Straße durch das Wahnbachtal. Heute markiert eine rote Boje die Lage der zu ihrer Zeit einzigartigen Stampfbetonbrücke über den Derenbach unmittelbar vor der Staumauer der Wahnbachtalsperre.

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Bild 12: Reste der 1945 zerstörten Ummigsbachtalbrücke
© Foto: Dieter Siebert-Gasper, 12/2016

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Bild 13: Die Wahnbachtalsperre
© Foto: Dieter Siebert-Gasper, 12/2016

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Bild 14: Aufgrund von Sanierungsarbeiten am Staudamm wieder aufgetauchte Derenbachtalbrücke (2008)
Quelle: Wikimedia Commons-Johannes Siebig

Quellen:

  • Archiv des Rhein-Sieg-Kreises, Landratsamt Siegkreis, Nr. 915, 918, 1594, 1600, 1890, 2105, 2180, 2775, 2813, 2898, 2919, 3017

Literatur:

  • Michael Behrndt/Jörg-Thomas Födisch: Kleiner Kreis – Großer Ring. Adenau und der Bau des Nürburgrings, Köln 2010
  • Heinrich Bonn, Straßenbau durch das Wahnbachtal, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises 1928, S. 35-39
  • Jürgen Haffke: Der Nürburgring. Tourismus für Millionen, Bonn 2010
  • Annkathrin Küster, Die Wahnbachtalstraße. 140 Jahre Strukturwandel im rechtsrheinischen Rhein-Sieg-Kreis, Siegburg 2014
  • Johann Paul, Eine Investition gegen die „Kreismüdigkeit“. Erwartungen beim Bau der Wahnbachtalstraße nach dem Ersten Weltkrieg, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises 2006 , S. 199-218
  • Johann Paul, Kraftwerkspläne an der Sieg nach dem Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 2006, S. 148-156
  • Johann Paul, Die Wahnbachtalstraße (Siegburger Blätter Nr. 35), Siegburg 2012
  • Paul Schmidt, Das Wahnbachtal im Talsperrenbereich. Eine Bilddokumentation, Neunkirchen-Seelscheid 1996
  • Dieter Siebert-Gasper, Vor rund 90 Jahren als „erste Kreisstraße“ gebaut – die Wahnbachtalstraße, in: Jahrbuch des Rhein-Sieg-Kreises 2017, S. 82-91
  • Dieter Siebert-Gasper, Die Wahnbachtalstraße – gebaut, geflutet und wieder aufgetaucht, in: Bergische Wege. Bewegung im Bergischen Land. Gestern – heute – morgen. Hrsg. v. Michael Kamp, Peter Ruland und Robert Wagner, Rösrath 2016, S. 171-178
Text: D. Siebert-Gasper, 5/2017

Die Wiedergabe der Bilder 1 - 10 erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Rhein-Sieg-Kreises -Archiv und Gedenkstätte-, die des Bildes 11 mit freundlicher Genehmigung des Archivs der capricorn Nürburgring GmbH

Zur Webseite "Nürburgring (Teil 1): Eine Sportstätte in der Eifel" von D. Siebert-Gasper:

Zur Webseite "Nürburgring (Teil 2): Nach dem 2. Weltkrieg bis heute " von D. Siebert-Gasper:

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